Forschungs- und Innovationsprojekt
Ad-libitum-Vollmilchtränke bei Fleckviehkälbern

Kalb beim Trinken im Tränkestand in Gruppenbucht
International steigt die Bedeutung der ad libitum Tränke. Kälber, die ab dem ersten Lebenstag Milch in unbegrenzten Mengen aufnehmen können, profitieren von den größeren Milchaufnahmen in Form von höheren Gewichtszunahmen und einer artgerechteren Fütterung.

Ziel

Untersuchungen zeigen, dass durch eine unbegrenzte Tränkeaufnahme in den ersten Lebenswochen die Vitalität der Kälber und die Zunahmen erhöht, die Verluste reduziert, aber auch die Leistungsausprägung und Vitalität der späteren Milchkühe nachhaltig positiv beeinflusst werden können. Die bisherigen Tränkeempfehlungen in den ersten Wochen basieren aber auf einer restriktiven Milchaufnahme.
Ziel dieser Studie war es, Effekte einer ad libitum Milchversorgung während der ersten vier Lebenswochen auf die Gewichtsentwicklung, die Kraftfutteraufnahme, die Tiergesundheit, Blutparameter und das Verhalten von männlichen und weiblichen Fleckviehkälbern zu analysieren. Insbesondere das gegenseitige Besaugen wurde betrachtet.

Tiere, Material und Methoden

Tiere, Gruppeneinteilung und Haltung

Die Studie wurde auf der Versuchsstation der bayerischen Landesanstalt für Landwirtschaft in Grub durchgeführt. 97 Fleckviehkälber aus der betriebseigenen Nachzucht (46 Bullen- und 51 Kuhkälber) wurden in die Studie einbezogen. Es wurden zwei Versuchseinheiten gebildet, von denen eine restriktiv (Kontrollgruppe) und die andere ad libitum (Versuchsgruppe) getränkt wurde.
Alternierend wurden Kälbergruppen mit je 12 Tieren gebildet, um zu große Altersunterschiede in einer Gruppe zu vermeiden. Insgesamt gab es acht Gruppen (vier ad libitum, vier restriktiv).
Die Kälber wurden die ersten beiden Wochen in mit Stroh eingestreuten Einzelboxen gehalten. Danach wurden sie in Tiefstreubuchten umgestallt. Dabei wurde die Gruppeneinteilung beibehalten.
Männliche Tiere blieben bis zur achten Lebenswoche im Versuch (56. Tag), weibliche bis zur sechzehnten Lebenswoche (112. Tag).

Fütterung

Tränke- und Grobfutterversorgung
Die Fütterung der Tiere erfolgte geschlechtsunabhängig. Die erste Biestmilchgabe war nicht angesäuert, die zweite Gabe mit 1,0 ml Säure je Liter Milch. Ab der dritten Tränke wurde die Tränke mit 2,0 ml Säure je Liter Tränke auf einen pH-Wert von 5,5 angesäuert.
Die restriktiv getränkte Gruppe (Kontrollkälber) erhielten 2 x täglich 2,5 Liter Milch in der ersten Woche und 2 x 3 Liter ab der zweiten Lebenswoche. In der Gruppenphase wurde die tägliche Menge kontinuierlich vom 15. bis 21. Tag von 6 auf 8 Liter erhöht. Bis zum Tag 42 blieb es bei 8 Liter Tagesmenge, dann wurde kontinuierlich abgetränkt von 8 Liter bis auf 0 Liter an Tag 70.

Kälber in Einzelhaltung

Abb. 2: Kälber in Einzelhaltung
Die ad libitum Gruppe hatte während der Einzelhaltung die Möglichkeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit angesäuerte Milch über einen Nuckel aufzunehmen.
Bei der Gruppenhaltung waren die Automaten bis zum 28. Tag auf die Maximalmenge von 25 Litern je Kalb eingestellt. Danach begann der Automat mit der kontinuierlichen Reduzierung der Milchmenge, zunächst von Tag 29 - 42 von der Maximalmenge auf 8 Liter, um dann gleich der Kontrollgruppe bis Tag 70 auf 0 Liter abzutränken.

Tränkeplan in den einzelnen Phasen

Abb. 3: Tränkeplan der ad libitum (ADL) und restriktiv (RES) getränkten Kälber in den einzelnen Phasen
Heu und Wasser stand allen Tieren zu jeder Zeit frei zur Verfügung. Kraftfutter wurde ab dem ersten Tag in Schalen angeboten. Ab dem 15. Tag wurden die Kälber in der Gruppenhaltung mittels Kraftfutterautomat versorgt. Der Kraftfutterplan war für beide Gruppen gleich. Der Kraftfutterautomat war für die Dauer von 14 Tagen auf 1,5 kg eingestellt. In den folgenden 14 Tagen wurde die tägliche Menge auf 2,5 kg erhöht. Eine letzte Steigerung fand innerhalb von 25 Tagen auf 3,5 kg statt. Diese Menge wurde bis Versuchsende beibehalten.
Ergänzungsfuttermittel, Selen und Eisen
Alle Tiere bekamen am ersten Lebenstag ein Ergänzungsfuttermittel, das neben Spurenelementen auch Vitamine und Provitamine enthielt und 2 ml Selen oral. Um die Eisenversorgung zu sichern, wurde einmalig 7 ml Ursoferran (150 mg/ml) oral verabreicht.

Gewichtsentwicklung

Zur Erfassung des Geburtsgewichtes kam ein Kälberwagen mit integrierter Waage zum Einsatz, der zugleich zum Transport vom Abkalbe- in den Kälberstall diente. Das Körpergewicht wurde individuell wöchentlich mit einer mobilen Waage erfasst.

Kalb in Waage

Abb. 4: Kalb in Waage

Erfassung des Trinkverhaltens

Das Trinkverhalten wurde bei 22 Kälbern (11 ADL; 11 RES) vom 3. bis zum 14. Lebenstag untersucht.

Erfasst wurden

  • tägliche Milchaufnahme in Litern
  • Häufigkeit der Mahlzeiten pro Tag
  • Dauer der Mahlzeiten in Minuten (min)
  • Gesamttrinkdauer je Tag in min
  • Intensität (Geschwindigkeit des Trinkens in Liter pro min
Um Aussagen über die Häufigkeit und Dauer der Mahlzeiten treffen zu können, wurde eine Mahlzeitenlänge mit 14,3 min nach dem Mahlzeitenkriterium von MILLER-CUSHON (2013) definiert.
Zur Erfassung des Trinkverhaltens wurde ein spezielles Wägesystem entwickelt (Schmidt, 2014).

Einzelboxen mit Wägesystem

Abb. 5: Einzelboxen mit Wägesystem
Das Wägesystem bestand aus einem ein Kubikmeter großen verzinktem Stahlrahmen, in den Wägeeinheiten für zwei Kälbereinzelboxen eingebaut waren. Eine Wägeeinheit setzte sich aus zwei Wägezellen zusammen, die jede über ein Datenkabel das gemessene Gewicht dreimal pro Sekunde an einen angeschlossenen Rechner sandte.
An einer Wägezelle hing ein Edelstahlkontainer mit 13 Liter Fassungsvermögen zur Aufbewahrung der Milch. Dieser war über einen Kunststoffschlauch mit einem an der Kälberbox befestigten Nuckel verbunden. Auf der linken Seite des Nuckels befand sich, an der Boxentür befestigt, ein in Holz gefasster Sensor, der den Ohrchip des Kalbes erfasste, sobald dieses trank.
Das Wägesystem war mit zwei Wägeeinheiten ausgestattet, wodurch das Trinkverhalten von je zwei Kälbern, deren Einzelboxen links und rechts des Wägesystems standen, aufgezeichnet wurde. Sechs solcher Systeme waren über den Zeitraum von acht Wochen im Einsatz.

Gegenseitiges Besaugen

Zur Erfassung des gegenseitigen Besaugens wurden Videoaufzeichnungen von sechs Gruppen über vier Wochen angefertigt. Das Verhalten wurde an zwei Tagen je Woche sechs Stunden erfasst. Zum Einsatz kamen vier Digitalkameras der Fa. Mobotix. Es wurden Häufigkeiten ausgewertet. Als eine Besaugaktion wurde gezählt, sobald das Flotzmaul eines Tieres Kontakt zu Ohr, Unterbauch, Ellbogen oder Genitalbereich eines Artgenossen hatte und zugleich einen Kopfstoß machte und/oder dabei den Hals überstreckte. Dabei musste der Kontakt mindestens fünf Sekunden bestehen. Nach fünf Sekunden Besaugen wurden Pausen, die kleiner waren als zehn Sekunden zum Besaugakt dazugezählt. War die Pause länger als zehn Sekunden, war der Besaugakt beendet.

Drei Kälber, die sich gegenseitig besaugen

Abb. 6: Gegenseitiges Besaugen

Gesundheitsstatus

Die Kälber wurden in den ersten 14 Lebenstagen vormittags täglich (außer sonntags) untersucht. Dabei wurden Abweichungen vom physiologischen Zustand anhand des Scores der Tabelle 1 beurteilt.
Tabelle 1: Score der untersuchten Parameter
ParameterBefundScore
Verhaltenaufmerksam
matt
liegt fest
1
2
3
Saugreflexgut
mäßig
fehlt
1
2
3
Schleimhautfarbeblassrosa
rosa
weiß
Zyanose
1
2
3
4
Hautturgorerhalten
geringgradig reduziert
reduziert
1
1,5
2
Bulbiohne besonderen Befund
geringgradig eingesunken
eingesunken
1
1,5
2
Kotkonsistenzmittelbreiig
Abweichung (wässrig, suppig, dünnbreiig)
1
2
Nabelkein Bruch, bleistiftstark, weich, schmerzfrei
geringgradige Abweichung
deutliche Abweichungen
1
1,5
2
Abweichungen vom physiologischen Zustand wurden mit einem Wert >1 bewertet. Im Rahmen der Untersuchung wurde die innere Körpertemperatur rektal mittels eines digitalen Thermometers gemessen.
In der folgenden Zeit bis Versuchsende wurden die Tiere nur noch wöchentlich untersucht. Dabei wurden die Temperatur und die Kotkonsistenz berücksichtigt. Zu den genannten Zeitpunkten fand jeweils auch eine Auskultation der Lunge statt. Diese wurde jedoch nicht ausgewertet, sondern diente nur dazu, gegebenenfalls auftretende Erkrankungen frühzeitig zu erkennen und zu behandeln.

Von 95 Kälbern wurden die Behandlungen und die dazugehörigen Diagnosen notiert. Die Art der Behandlung und Anzahl der Behandlungstage wurde nicht berücksichtigt, weil keine einheitlichen Behandlungsschemata für die jeweiligen Erkrankungen angewendet wurden. Somit wurde erfasst, ob eine bestimmte Erkrankung behandelt wurde (Behandlungsereignis) und wenn ja, in welcher Phase des Versuches.

Blutproben

Zwischen 7 und 8 Uhr morgens wurde an mehreren Terminen Blut genommen. Die erste Probennahme fand 24 bis 72 Stunden nach der Geburt statt. Weitere Beprobungen folgten an Tag 7, 14, 21, 28, 35, 42, 49 und 56, bei den Kuhkälbern zusätzlich an Tag 84 und 112.

Dabei wurden folgende Parameter erfasst:

  • Glukose
  • kleines Blutbild
  • γ-GT
  • LDH
  • GLDH
  • NEFA
  • β-Hydroxybutyrat
  • Harnstoff
  • Totalprotein
  • Eisen
  • Triglyceride
  • IGF 1
Während der Einzelboxenhaltung wurde bei zu beprobenden ad libitum Tieren zwei Stunden vor Probennahme der Eimer abgehängt, während restriktive Tiere erst nach der Blutentnahme getränkt wurden. In der Gruppenhaltung wurde der Automat für diese Zeit gesperrt. Diese Maßnahmen wurden ergriffen, um annähernd eine Nüchternprobe zu gewinnen.

Ergebnisse

Milchaufnahme

Die ad libitum getränkten Kälber nahmen bis zum 56. Tag deutlich mehr Milch auf als die restriktiv getränkten Kälber.

Liniendiagramm Verlauf der Milchaufnahme

Abb. 7: Verlauf der Milchaufnahme von ad libitum und restriktiv getränkten Kälbern während der ersten zehn Lebenswochen (ADL = ad libitum; RES = restriktiv)
In den ersten vier Wochen nahmen die ADL Tiere pro Tag im Mittel 2,1 Liter mehr Milch auf, als die Kälber der RES Gruppe und wiesen damit signifikant höhere Milchaufnahmen auf (+ 56,3 kg Milch). Zwischen dem 28. und dem 42. Tag begann für die ADL Tiere das Abtränken. In dieser Phase nahmen die ADL Kälber täglich 1,5 kg mehr Milch auf als die RES Kälber (+ 22 kg Milch).
Ab dem 42. Tag wurden beide Gruppen gleich von acht Litern Milch abgetränkt.
Tabelle 2: Mittlere tägliche Milchaufnahme (kg) in den einzelnen Phasen von ad libitum (ADL) und restriktiv (RES) getränkten Kälbern mit Angabe des p-Wertes und der Effektgröße Cohen r
 ADLADLRESRES  
PhaseMittelwertStandardabweichungMittelwertStandardabweichungp-WertCohen r
Tage 1 - 287,33,25,21,9 0,69
Tage 29 - 428,72,67,21,4 0,60
Tage 43 - 565,41,35,61,30,0280,23
Tage 43 - 703,62,23,62,30,3440,14

Kraftfutteraufnahme

Die Kraftfutteraufnahme wurde ab dem 15. Lebenstag erfasst. Sie war in den ersten Lebenswochen in beiden Gruppen minimal und stieg erst um den 42. Lebenstag an. Weder das Fütterungsregime noch das Geschlecht der Tiere hatte in einer der Phasen einen signifikante Einfluss auf die Kraftfutteraufnahme.

Die mittlere tägliche Kraftfutteraufnahme in den einzelnen Phasen ist Tabelle 2 zu entnehmen.
Tabelle 3: Mittlere tägliche Kraftfutteraufnahme (kg) in den einzelnen Phasen von ad libitum (ADL) und restriktiv (RES) getränkten Kälbern mit Angabe des p-Wertes und der Effektgröße Cohen r
 ADLADLRESRES  
PhaseMittelwertStandardabweichungMittelwertStandardabweichungp-WertCohen r
Tage 15 - 280,020,050,010,040,7200,04
Tage 29 - 420,070,110,100,150,7690,03
Tage 43 - 560,450,510,440,480,7040,05
Tage 43 - 1122,381,352,321,380,4030,15

Gewichtsentwicklung

Die Tiere wurden wöchentlich zu bestimmten Stichtagen gewogen. Daraus wurden die mittleren täglichen Zunahmnen berechnet und phasenweise verglichen.
Das Geburtsgewicht der männlichen Kälber betrug im Schnitt 45,7 kg, das der weiblichen Kälber 42,1 kg.

Liniendiagramm mittlere tägliche Zunahmen

Abb. 8: Mittlere tägliche Zunahmen (g/Tag) in den ersten 16 Lebenswochen von ad libitum (ADL) und restriktiv (RES) getränkten Kälbern (n=89) in den einzelnen Phasen
Während der Phase 1 hatten die ADL Tiere signifikant höhere Zunahmen (+ 300 g/Tag). Auffällig war bei beiden Gruppen ein Einbruch der Zunahmen in der zweiten Lebenswoche, bedingt durch Durchfall. Die Tiere schieden viel Flüssigkeit und Elektrolyte mit dem Kot aus, was unter anderem zu Appetitlosigkeit und folgend zu geringer Milchaufnahme und geringeren Zunahmen führte.

Im weiteren Verlauf stiegen in beiden Gruppen die Zunahmen bis zum 28. Lebenstag wieder an.
Während die Zunahmen der RES Kälber in Phase 2 relativ stabil blieben, nahmen die Zunahmen der ADL Tiere durch die Reduktion der Milchmenge bis zur siebten Lebenswoche ab. Dadurch unterschieden sie die beiden Gruppen vom 28. bis 56. Lebenstag nicht signifikant.

Am 56. Lebenstag war die Untersuchung für die männlichen Kälber beendet, während die Entwicklung der weiblichen Kälber bis zum 112. Lebenstag untersucht wurde. Im Vergleich zeigten die Kuhkälber der ADL Gruppe in diesem Zeitraum (43. - 112. Lebenstag) signifikant höhere Zunahmen als RES Kälber.

Obwohl die Milchversorgung aller Kälber ab der siebten Woche gleich war, waren die Zunahmen der ADL Tiere höher als bei den RES Kälbern. Daraus könnte gefolgert werden, dass die ADL Kälber in der Lage waren, die aufgenommene Energie besser in Körpermasse umzuwandeln. ADL Bullenkälber erreichten zwei Wochen früher das Verkaufsgewicht von 80 kg.
Die durchschnittlichen Körpergewichte beider Gruppen an den Stichtagen sind in Tabelle 3 dargestellt.
Tabelle 4: Körpergewicht in kg (Mittelwert ± Standardabweichung SD, Median) von Fleckviehkälbern (n=89) zu Versuchsbeginn und an den Endtagen der drei Phasen mit Angabe des p-Wertes und der Effektgröße Cohen r
 ADLADLRESRES  
LebenstagMW ± SDMedianMW ± SDMedianp-WertCohen r
144,1 ± 6,443,543,3 ± 5,0440,5760,06
2865,3 ± 9,565,056,1 ± 6,256 0,51
4278,8 ± 10,678,368,9 ± 8,170 0,44
5690,4 ± 12,489,2582,0 ± 10,783,50,0020,33
Am ersten Lebenstag ergaben sich keine signifikanten Differenzen der mittleren Geburtsgewichte zwischen den Gruppen. An den Lebenstagen 28, 42 und 56 wiesen die männlichen und weiblichen ADL Kälber jeweils signifikant höhere Lebensgewichte auf als die RES Kälber des jeweiligen Geschlechtes.

Die ADL Kuhkälber waren mit einem mittleren Gewicht von 156,0 kg am Versuchsende (112. Lebenstag) signifikant schwerer als die RES Kuhkälber (Differenz 16,7 kg).

Säulendiagramm Mittleres Körpergewicht der Kälber bei Geburt und an Ende der einzelnen Phasen

Abb. 9: Entwicklung der Lebendgewichte bei ad libitum und restriktiv getränkten Kälbern unter Berücksichtigung des Geschlechts

Trinkverhalten

Fast alle der untersuchten 22 Kälber erkrankten um den 8. Tag an Durchfall, der individuell mehr oder weniger stark ausgeprägt war, und bekamen tagsüber zusätzliche Elektrolyttränken, die die Versuchsergebnisse beeinflussten. In den ersten beiden Lebenswochen tranken die ADL Kälber im Mittel 6,9 bzw. 7,0 Liter Milch. Die RES Tiere konnten nach Tränkeplan in der ersten Woche 5 Liter und in der zweiten Woche 6 Liter trinken. Die tatsächliche aufgenommene Tränkemenge lag bei 4,3 bzw. 4,0 Liter Milch. Der Unterschied der Milchaufnahme zwischen den Gruppen war hoch signifikant (p=0,003 erste Woche; p<0,001 zweite Woche).
Tabelle 5: Trinkverhalten (Häufigkeit und Dauer von Mahlzeiten, Gesamttrinkdauer, Intensität des Trinkens) bei ad libitum und restriktiv getränkten Kälbern in der ersten und zweiten Lebenswoche
 Woche 1Woche 1Woche 2Woche 2
 ADLRESADLRES
Milchaufnahme je Tag (Liter)6,9 ± 3,24,3 ± 2,37,0 ± 3,44,0 ± 1,9
Häufigkeiten der Mahlzeiten je Tag6,2 ± 3,72,1 ± 0,86,8 ± 3,53,2 ± 1,9
Dauer der Mahlzeiten je Mahlzeit (min)4,6 ± 4,47,4 ± 4,23,7 ± 3,15,0 ± 3,9
Gesamttrinkdauer je Tag (min)28,6 ± 22,415,2 ± 7,225,3 ± 13,915,8 ± 10,2
Intensität des Trinkens je Mahlzeit (l/min)0,22 ± 0,170,31 ± 0,240,24 ± 0,190,27 ± 0,29
Die Dauer einer durchschnittlichen ADL Mahlzeit war signifikant kürzer als die Mahlzeit eines RES Kalbes. In der ersten Woche war diese knapp halb so lang wie die Mahlzeitendauer eines RES Kalbes (ADL 4,6 min; RES 7,4 min).

Bei der Gesamttrinkdauer über den Tag verbrachten ADL Kälber in der ersten Woche aber deutlich mehr Zeit mit der Nahrungsaufnahme als die RES Tiere (ADL 28,6 min; RES 15,2 min). Die auffällig große Standardabweichung (22,4 min) in der ersten Woche der ADL Tiere weist auf die großen individuellen Unterschiede im Trinkverhalten der Kälber hin.

Die Intensität des Trinkens beschreibt die Geschwindigkeit, mit der die Kälber die MIlch aus dem Nuckel saugen und aufnehmen. In bei den Wochen tranken die RES Kälber schneller. Der Unterschied zwischen den Trinkgeschwindigkeiten beider Gruppe war in der ersten Woche signifikant (p<0,001), in der zweiten Woche jedoch nicht.
Ein ADL Kalb trank im Mittel etwa ein Liter Milch je Mahlzeit, während ein RES Kalb in der ersten Woche im Mittel zwei Liter je Mahlzeit trank und in der zweiten Woche 1,25 Liter.
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass ADL Kälber öfter aber dafür kürzer trinken als RES Kälber und somit über den Tag mehr Zeit mit der Milchaufnahme verbringen und größere Tagesmilchmengen aufnehmen. Die ADL Tränke orientiert sich am arttypischen Verhalten der Kälber und ist damit tiergerechter.

Gegenseitiges Besaugen

Kälber, die bei der Mutter aufwachsen, saugen länger und öfter am Euter der Mutter, als Kälber in der mutterlosen Aufzucht (Lidfors 2010). Eine ad libitum Tränke sollte den Kälbern zu jeder Zeit die Milchaufnahme ermöglichen. So könnte das gegenseitige Besaugen reduziert werden. Das Resultat dieser Studie war gegenteilig.
Mit der Einstellung am 15. Lebenstag in die Gruppenboxen trag gegenseitiges Besaugen auf. Fast ausschließlich wurde im Genitalbereich besaugt. Ohren und Ellbogen waren nur sehr vereinzelt Gegenstand des Besaugens. Zwischen den Geschlechtern gab es keine Unterschiede.
Das meiste Besaugen trat direkt im Anschluss an die Milchtränke auf. Die Ausprägung des Besaugeverhaltens war individuell sehr unterschiedlich ausgeprägt. Manche Kälber besaugten sich gar nicht, während andere durchschnittlich über siebenmal pro Tag Artgenossen besaugten.
Im Vergleich zwischen den Gruppen besaugten Kälber aus der ADL Gruppe mehr als doppelt so oft ihre Boxengefährten als die Kälber der RES Gruppe. Ein ADL Kalb besaugt im Beobachtungszeitraum im Mittel pro Tag 2,46 mal, während ein RES Kalb 1,04 mal seine Artgenossen besaugte.

Durchschnittliche Häufigkeit des gegenseitigen Besaugens je Tier und Tag

Abb. 10: Durchschnittliche Häufigkeit des gegenseitigen Besaugens je Tier und Tag bei ad libitum und restriktiv getränkten Kälbern
Die ADL Tränke erhöhte das Auftreten des gegenseitigen Besaugens. Nach RUSHEN und DE PASSILE (1995) löste allein der Geschmack von Milch beim Kalb das Saugen aus. Sobald das Saugen ausgelöst wurde, hielt es für rund zehn Minuten an (DE PASSILE 1992). ADL getränkte Kälber hatten viele kurze Mahlzeit im Vergleich zu den RES Tieren. Wenn nun bei einer ad libitum Tränke öfter das Saugen ausgelöst wurde, und das Saugen jedesmal um die zehn Minuten anhielt, während das Kalb nur vier Minuten im Automaten stand, ist es naheliegend, dass das Saugbedürfnis anderweitig befriedigt werden musste. Demnach wäre ein Tränkeautomatenstand, dessen Türe zehn Minuten oder länger verschlossen bliebe, eine Lösung.

Gesundheitsstatus

Die Kälber wurden in den beiden ersten Lebenswochen täglich (außer Sonntag) klinisch untersucht. Die Parameter Verhalten, Saugreflex, Schleimhautfarbe, Hautturgor, Bulbi der Augen, Kotkonsistenz, Nabel wurden nach einem definierten Score bewertet. Ab der dritten Woche wurde wöchentlich die Kotkonsistenz beurteilt und die Körpertemperatur gemessen. Nur in den ersten vier Lebenswochen wurden relevante Unterschiede zwischen den Gruppen festgestellt. Die restriktiv getränkten Kälber wiesen in den ersten beiden Lebenswochen einen signifikant höheren Score für die Kotbeschaffenheit und den Hautturgor auf. Bei den anderen Kriterien gab es keine signifikanten Unterschiede.
Bei der statistischen Auswertung aller Behandlungsereignisse über die gesamte Versuchsdauer zeichnete sich eine Tendenz ab, dass die RES Gruppe häufiger behandelt wurde. Einige Erkrankungen traten sporadisch auf, so dass nur Behandlungsereignisse mit ausreichender Fallzahl statistisch ausgewertet werden konnten. Dazu zählten Behandlungen infolge Pneumonie und Diarrhoe.

In der RES Gruppe wurde in 14 von 133 Phasen (10,5 %) aufgrund klinischer Anzeichen einer Pneumonie behandelt im Vergleich zu 5 von 138 Phase (3,6 %) bei der ADL Gruppe. Die RES Gruppe musste über den gesamten Versuchszeitraum signifikant häufiger gegen Pneumonie behandelt werden als die ADL Gruppe (p=0,032). Bezüglich Diarrhoe ergaben sich keine signifikanten Differenzen.

Blutparameter

Die Konzentration der Blutparameter der beiden Gruppen unterschieden sich bei der ersten Probenentnahme am dritten Lebenstag nicht signifikant voneinander. Eine ad libitum Tränke ging mit veränderten Konzentrationen von IGF-I, BHB, Triglyceride, LDH und NEFA einher. Darüber hinaus wies das rote Blutbild Veränderungen auf. Betroffen waren die Erythrozyten, der Hämatokrit und die Erythrozytenindizes (MCV, MCH und MCHC). Hingegen blieben IgG, TP, γ-GT, GLDH, Harnstoff, Glukose und Eisen vom Fütterungsregime unbeeinflusst.
Bei der Beurteilung des Gesundheitsstatus ist eine gleichzeitige Betrachtung des Immunstatus von Bedeutung. In der Zeit vor dem Absetzen ist für Kälber mit unzureichender Immunglobulinversorgung das Morbiditätsrisiko dreifach und das Mortalitätsrisiko fünffach erhöht im Vergleich zu ausreichend mit Immunglobulinen versorgten Kälbern.
Immunglobulin G
Bei der Untersuchung der IgG-Konzentration der ersten Probenahme (24-72 Stunden post natum) wurde das Einzeltier betrachtet, um die Versorgung mit kolostralem IgG festzustellen.

Es wurden drei Konzentrationsbereiche unterschieden:

  • >= 10,0 mg/ml ausreichende Versorgung mit Immunglobulinen
  • 5,1 - 9,9 mg/ml partiell mit Immunglobulinen versorgt (Failure of passive transfer, pFPT)
  • <= 5,0 mg/ml keine ausreichende Versorgung (Failure of passive transfer, FPT)
18 Kälber (20,2 %) wiesen eine ausreichende Versorgung auf, 46 Kälber (51,7 %) waren partiell mit Immunglobulinen versorgt und 25 Kälber (28,1 %) waren nicht ausreichend versorgt. Die Gruppen unterschieden sich nicht signifikant hinsichtlich der Verteilung in die einzelnen Konzentrationsbereiche.
Die Abbildung 11 zeigt den zeitlichen Verlauf der mittleren IgG Konzentration. In keiner der untersuchten Phasen unterschieden sich die Gruppen signifikant.

Liniendiagramm Verlauf der mittleren IgG-Konzentration im Serum

Abb. 11: Zeitlicher Verlauf der mittleren IgG Konzentration im Serum vom 3. bis zum 112. Lebenstag in den einzelnen Phasen von ad libitum (ADL) und restriktiv (RES) getränkten Kälbern (n=89; 84. und 112. Lebenstag n=47)
IGF-I
Es fiel auf, das die Konzentration in der ADL Gruppe von Beginn an bis Tag 42 zunahm. In der RES Gruppe hingegen fiel die Konzentration bis zum 14. Tag ab und stieg anschließend ebenfalls bis zum 42. Lebenstag an. Von Tag 42 bis 56 wurden in beiden Gruppen abnehmende Werte beobachtet. Am 112. Lebenstag wurden in beiden Gruppen die durchschnittlichen Höchstwerte beobachtet, wobei die ADL Kälber einen signifikant höheren Wert als die RES Kälber aufwiesen (p<0,003; r=0,44).

Liniendiagramm IGF-I Konzentration im Serum

Abb. 12: Verlauf der mittleren IGF-I Konzentration im Serum von ad libitum (ADL) und restriktiv (RES) getränkten Kälbern (n=89; 112. Lebenstag n=47)
In Phase 1 wiesen die ADL Kälber signifikant höhere Werte auf (p<0,004). Im weiteren Verlauf (Tag 28-42 und Tag 42-56) unterschieden sich die Gruppen nicht signifkant. Allerdings hatten die ADL Kuhkälber für den Zeitraum vom Abtränken (Tag 42) bis zum Versuchsende (Tag 112) signifikant höhrere Werte als die RES Kälber. (p<0,014; r=0,36). Darüber hinaus korrelierte IGF-I signifikant mit dem Körpergewicht (rSp=0,601; p<0,000) und den Zunahmen (rSp=0,659; p<0,000) der Kälber.

Schlussfolgerung

  • Eine ad libitum Milchtränke führt bei Fleckviehkälbern zu höheren Gewichtszunahmen. Die ADL Bullenkälber überschritten das Gewicht von 80 kg bereits am 42. Lebenstag, während die männlichen RES Kälber das Verkaufsgewicht erst am 56. Tag erreichten.
  • Die ad libitum Tränke ist tiergerechter, da die Kälber länger und häufiger Milch aufnehmen können und keine Hungerzeiten über den Tag entstehen.
  • Die Untersuchung des Gesundheitsstatur ergab Hinweise, dass die ADL Kälber weniger stark von Durchfall betroffen waren und insbesondere die Behandlungsinzidenz aufgrund von klinischen Anzeichen einer Pneumonie signifikant niedriger war.
  • Zur Vermeidung des gegenseiten Besaugens müssen praktikable Lösungsansätze gefunden werden.
  • Inwieweit diese Tränkemethode langfristige Effekte verursacht und zu einer höheren Futteraufnahme und höheren Milchleistung führt, soll in weiteren Untersuchungen geklärt werden.
  • Die Aufzucht gesunder Kälber bei verkürzter Aufzuchtdauer führte zu der Annahme, dass sich die Mehrkosten für die intensivere Fütterung durchaus lohnen können.
  • Die Ad libitum Tränke nähert sich der natürlichen Milchaufnahme in muttergebundener Aufzucht an und leistet somit einen Beitrag zu mehr Tierwohl. Daher sollte diese Aufzuchtmethode schrittweise in die Praxis der Kälberhaltung in Bayern eingeführt werden.
Projektinformation
Projektleiter: Prof. Dr. K. Reiter, Prof. Dr. M. Erhard
Projektbearbeiter: K. Bernhart, T. Kürn
Laufzeit: Oktober 2014 bis November 2016
Finanzierung: Bayerisches Staatsministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten (StMELF)
Projektpartner: Lehrstuhl für Tierschutz, Verhaltenskunde, Tierhygiene und Tierhaltung der LMU, TGD, LfL-AVB
Förderkennzeichen: A/14/03